Gustl Mollath - nichts Neues aus der Anstalt

1998 fand in Berlin das Foucault-Tribunal zur Lage der Psychiatrie statt -  gegen die Tendenz der Wissenschaft und Gesellschaft, sich abzuschließen vor der zum Teil unerträglichen Wirklichkeit.

Dietmar Kamper formulierte (die Transkription ist etwas abenteuerlich), worum es damals und heute leider nicht weniger geht:

Es war für mich auffallend, daß sehr viele mit Äußerungen verbundenen Ansprüche so ähnlich klangen wie wenn wir hier ein Gericht wären oder ein oberstes Gericht oder ein Gerichtshof aber ich glaube der Gerichtshof der Vernunft, der den Philosophen des bürgerlich Zeitalters vorschwebte, ist nicht mehr besetzt. Die Klagen sind dort nicht anbringbar. Es geht jetzt glaube ich nur noch so, daß einzelne sich die Mühe machen in einer gewissen Unerbittlichkeit gegen die Konvention und auch gegen ihre eigenen Gewohnheiten zur Sprache zu bringen, was nicht einfach zur Sprache zu bringen ist. Das Fehlen dieses Gerichts so scheint mir muß begriffen werden und daraus müssen Konsequenzen gezogen werden, die uns nicht mehr in die Lage von irgendwelchen fantasmatischen Omnipotenz Kompensationen bringen, wie diese Termini auch immer heißen mögen. Die Universtität ist in gewisser weise in der entscheidender Frage einer Erkenntnis dessen, was wirklich in dieser Gesellschaft geschied, in eine Phase der Inkompetenz geraten, die wir uns nicht weiter bieten lassen sollten. Das ist auch ein Krieg innerhalb der einzelnen Fächer also gegen die Tendenz, sich abzuschließen vor der zugegebener Maßen zum Teil schrecklichen, zum Teil unerträglichen Wirklichkeit. Jeden Falls, ist mit dieser Gründung des Foucault Tribunals eine Absicht verbunden, die man so benennen könnte: es soll aufgehört werden mit dem Totschweigen.

Die Worte und Sätze des Gerichtsdieners Dietmar Kamper, auf dem Foucault-Tribunal größtenteils vorgetragen, stehen unter dem Motto, das die oft wiederholte Trapattoni-Performance beendete:

  1. das Totschweigen des Protestes gegen psychiatrische Zwangsbehandlung soll aufhören; die psychiatrische Zwangsbehandlung gegen den Willen der Betroffenen soll aufhören; der faule Zauber, der sich aus einem Begriff der Geisteskrankheit ergibt, soll aufhören: der Begriff der Geisteskrankheit soll ersatzlos gestrichen werden.
  2. eine solche Forderung kann nur in Rücksicht auf den Zwang eingelöst werden, der in der gesamten Gesellschaft herrscht; das Psychiatrie-Modell ist nämlich auf die Gesellschaft ausgedehnt worden: der Wahn, der in Psychiatrien behandelt wird, hängt mit dem gesellschaftlichen Wahn unauflöslich zusammen, ohne mit ihm identisch zu sein. Analyse tut not.
  3. man kann doch nicht auf ärztliche und menschliche Hilfe verzichten; daß die menschliche Freiheit durch Tyrannei und Therapie gefährdet wird (Thomas Szasz), ist in erster Hinsicht selbstverständlich, in zweiter Hinsicht ein zu grobes Urteil; man kann den Zwang, den ein Mensch gegen sich selbst richtet, nur durch vorübergehenden Zwang von außen brechen.
  4. es reicht nicht aus, vom Elend der Psychiatrie-Betroffenen und -Erfahrenen schriftlich und mündlich zu berichten; die Techniken des Weghörens und Totschweigens sind nach der Phase der Anti-Psychiatrie gesellschaftlich und institutionell gut eingeübt; deshalb bedarf es der Aufführung des Prozesses, bedarf es der performance auf der Bühne.
  5. es reicht nicht aus, die Vernunft und die Freiheit zu reklamieren; gegen den faulen Zauber wissenschaftlicher Begrifflichkeit und institutioneller Regelungen, Prozeduren und Maßnahmen, gegen die Normalität des Protestes kommt nur ein Gegenzauber an, wie er historisch in Literatur und Kunst ausprobiert wurde; deshalb sind Unterbrechungen des Prozesses mittels sprachlicher und bildlicher Intensitäten nötig.

Die marktwirtschaftliche Befreiung der Patienten sieht so: die Kassen verweigern Behandlung und Therapie.

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