Friedrich Kittler über abendländische Liebe

Mit der Werbung für die neue Lettre liegt ein Fragment aus einem unabgeschlossenen Dialog, den der kürzlich verstorbene Philosoph Friedrich Kittler mit Frank Raddatz über die Geschichte der Liebe begonnen hat, in der Post.

Hält man sich an die christlichen Texte, an den corpus, ist es nicht weit gekommen mit der paulinischen Rhetorik der Liebe.

Der Philosoph beherrscht die Sprache der Liebe also nicht?

Er möchte sich zum Herrn über die Liebe machen, damit er selber geliebt wird. Die Paradoxie von Sokrates ist, daß er alt ist, daß er nicht reich ist, nicht mächtig ist, daß er häßlich ist - und trotz dieser wenig attraktiven Schale gelingt es ihm, mittels seiner so tiefsinnigen schönen inneren Seele junge, schöne, mächtige Männer dazu zu bringen, sich in ihn zu verlieben. Das ist diese Paradoxie des Sokrates, dieser philosophischen Liebe. Es ist eine Liebe wider alle Wahrscheinlichkeit, die Sokrates gestiftet und aufgebaut hat. Pädagogischer Eros hat das der arme Ludwig Klages vor hundert Jahren genannt. Wahrscheinlich handelt es sich um das Betriebsgeheimnis aller mehr oder minder pädophilen Institutionen wie Universität, höhere Schule, Kirche und woran man sonst noch denken kann, wenn es darum geht, daß der alte Meister sich von den jungen Schönen bewundern läßt und nicht umgekehrt.

Die Liebe und das Christentum, das geht also nicht zusammen?

Über Jahrhunderte haben nur Mönche gedichtet, bis endlich ein paar Nonnen, Hildegard von Bingen und Mechthild von Magdeburg, das Wort ergriffen und der Minnemystik zumindest das Wort geredet haben. Das wäre die einzige Einschränkung, die man innerhalb des christlichen Horizonts zugunsten der Liebe machen könnte. In der Mystik wird von Nonnen und Mönchen manchmal eine Form der Liebe erreicht, die über die bloße caritas oder agape hinausgeht als Brautmystik und Brautliebe im Sinn des salomonischen Hohenliedes, das in der ganzen Bibel die einzige Liebesdichtung ist, die sich finden läßt. Wenn der einzige Gott seine Schöpfung aus dem Nichts hervorgehen läßt und nicht aus dem Zusammenwirken der Liebenden, dann handelt es sich um einen gezielten Ausschluß der weiblichen Gottheit und ist mit dem Prinzip der Liebe, wie Sappho, Lukrez, Ovid oder Bachmann und viele andere es beschreiben, nicht vereinbar.

Klar ist, dass Kittler die antropologische Perspektive der paulinischen Liebe (und ihre säkulare Pointe: die Lehre von der bedürftigen Kreatur) gar nicht erst zur Kenntnis zu nehmen scheint. Und das auch mit einem gewissen historischem Recht - denn der eine Körper der Christenheit wurde immer durch Zwangsgewalt und nicht durch Erotik gebildet.

(Unfassbar, wie Kittler, einer der wenigen wirklich freien Geister an deutschen Universitäten, schon jetzt fehlt, an allen Ecken und Enden des Denkens.)

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