Ende der Unschuld

Die massenhafte Vorratsdatenspeicherung - ob in den USA oder in Deutschland - setzt die Unschuldsvermutung außer Kraft, auf der das europäische Recht seit 800 Jahren beruht.

Die Tötung (mit Hilfe von Drohnen) außerhalb geltenden Kriegs- und Völkerrechts ist nur die andere Seite der Überwachungstechnologie. Filter definieren, wer außerhalb des Gesetzes steht, homo sacer und vogelfrei ist. Die gespeicherten Datenspuren enthalten die Adressen potentieller Opfer staatlichen Tötens.

Noam Chomsky

wirft Obama und der Vorgängerregierung unter George W. Bush vor, die Grundsätze der Magna Carta außer Kraft gesetzt zu haben - allen voran den Grundsatz der Unschuldsvermutung gegenüber jedem Menschen. Bush und Obama hätten jedoch Verdächtige töten lassen - unter ihnen Osama bin Laden - denen nach dem Geist der Magna Carta erst einmal ein Gerichtsverfahren zugestanden hätte. Sie hielten Menschen in Guantanamo ohne Gerichtsverfahren fest. "Das alles verletzt Prinzipien, die seit 800 Jahren gelten.

Zu fragen wäre jetzt, wie der Abschied von der Unschuldsvermutung im politisch-juristischen Diskurs durchgesetzt wurde, also die Voraussetzung stark gemacht wurde, dass Menschen zunächst und vor allem schuldig, deswegen verdächtig und prinzipiell des Todes sind.

Ohne den (christlich-)fundamentalistischen Diskurs, der alle Menschen schuldig spricht, ihnen die Freiheit nimmt und sie qua Erbsünde zu Gottesfeinden erklärt, die ihre verdiente Strafe, den Tod, erfahren, ist der politisch-theologische Angriff auf die juristische Unschuldsvermutung nicht denkbar. Im Schatten dieses Angriffes hat sich nach dem Ende des konfessionellen Bürgerkrieges der europäische Rechtsstaat entwickelt, der jetzt für den Weltmarkt, die globalisierte Konkurrenz, abgewickelt werden soll.

Nachsätze

Die Stellung zum Recht wird nach dem Ende des Rechtsstaates doppeldeutig, so zwar, dass niemand mehr vor dem Gesetz steht, sondern nur oberhalb oder unterhalb der Rechtsordnung.

Die Rechtsordnung ist nur für die Schuldigen gültig, die Rechtgläubigen aber stehen kraft ihres Glaubens außerhalb (oberhalb) des Gesetzes: sie exekutieren mit göttlicher Vollmacht das Recht. Die Schuldigen stehen außerhalb (unterhalb) des Rechts und werden in seinem Namen getötet, ohne je verurteilt worden zu sein.

(Diese Asymmetrie scheint der Asymmetrie (post-)moderner Kriege und ihrer fundamentalistischen Legitimierung zu entsprechen - der Legitimierung von oben, beim politischen Christentum von Bush und Obama, und von unten, beim politischen Islam.)

NSA-Religion

Klar, dass die Politik der USA nur politisch-theologisch begriffen werden kann ...

Als Alexander 2007 den Grundstein für ein Abhörzentrum in Georgia legte, begrüßte er Mitarbeiter mit den Worten: "Sie verrichten das Werk des Herrn." Das war kein Scherz. Es entsprach der NSA-Religion.

Auch die CIA ist ohne Religion des Nachrichendienstes nicht möglich:

»Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen«, soll Jesus einst gepredigt haben. Der 32. Vers aus dem achten Kapiel des Johannes-Evangeliums ziert das Foyer des ersten Hauptquartiers der CIA und sollte nach deren Angaben »die nachrichtendienstliche Mission in einer freien Gesellschaft charakterisieren«.