Die Lehre des Odysseus - Szenen abendländischer Willkommenskultur (1)

Die Odyssee ist (neben der Bibel) das Grundbuch der abendländischen Zivilisation. Wir haben es mit einem Buch zu tun, in dem nicht nur Urbilder europäischer Willkommenskultur geschildert werden, sondern Gastfreundschaft als Rechts- und Verkehrsform zur normativen Kraft wird.

Die Odyssee ist ein Epos des Fremden, es handelt vom Gastrecht als göttlichem Recht, von der Gastfreundschaft als sozialem Band und von Zeus, dem Gastlichen, der »das Gastrecht schützt« (14, 284). Als Göttervater ist »Zeus der Rächer für Schutz erflehende Fremde, Zeus, der Gastliche, der den zu achtenden Fremden Geleit gibt.« (9, 266-271)

Das konnte vor fast 3000 Jahren hören und kann heute noch lesen und verstehen, wer mit Verstand begabt ist, also nicht zu den patriotischen Europäern gehört. Gilt doch - so lässt Homer den Alkinoos, König der Phäaken, sagen - »dem Bruder gleich der Fremde und der, der um Schutz fleht | Für den Mann, der mit dem Verstande ein wenig nur hinreicht.« (8, 546-547)

Erzählt wird von Homer, wie Odysseus nach dem zehn Jahre währenden Trojanischen Krieg, bei der Heimfahrt durch widrige Winde verschlagen, weitere zehn Jahre umherirrt und nach vielen Abenteuern schließlich als Bettler unerkannt nach Ithaka zu seiner Frau Penelope heimkehrt - und Recht und Ordnung wieder herstellt.

Es ist nicht zuletzt das heilige Gastrecht, das Odysseus nach seiner Rückkehr mit dem (Massen-)Mord an den Freiern wieder in Kraft setzt. Charakteristisch für die Freier ist ja, wie man unter ihnen »die fremden Gäste mißhandelt« (20, 318). Der von den Freiern besetzte Hof des Odysseus zeigt das Bild einer Zivilisation, die in die Barbarei zurückgefallen ist, in den Stand der Rechtlosigkeit. Weil Odysseus fehlt, so Penelope, sind keine da, »(d)ie zu ehrende Fremde geleiten oder empfingen« (18, 316).

Und so meldet Eurykleia, die liebe Amme, der Penelopeia nach gewonnener Schlacht die frohe Botschaft: »Es ist Odysseus da im Haus (...), | Jener Fremde, den alle mißachtet haben im Saale.« (23, 27-28)

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