Bereits die zweite Generation der Franziskaner hatte mit dem Gedanken radikaler Armut gebrochen. Bonaventura und Roger Bacon sind für sie insofern exemplarisch, als sie zeigen, was zwischen 1250 und 1350 zu denken möglich war. Auch hinter sie musste zurück, wer der ursprünglichen Idee der Bewegung treu bleiben wollte.
Denn der Bau des Convento dos Capuchos in Sintra war geistig und architektonisch ein Versuch, die Erfahrung der ersten Generation der franziskanischen Bewegung nach über 300 Jahren wieder neu zu beleben. Seine Gründung, das dürfen wir nicht vergessen, fällt ins Jahr 1560.
Dass dieser gewollte Rückschritt keineswegs das gesamte Erbe des Bettelordens verschleuderte, zeigt ein Blick auf Bonaventuras Illuminationstheorie der Erkenntnis, seine Lichtmetaphysik. Und dass die Radikalen in der Serra de Sintra auch in der Tradition des nach nützlichem Wissen suchenden Bacon standen, wird durch Berichte über die medizinischen Kenntnisse der Mönche und ihr praktisches Engagement für die Armen belegt; die Apotheke des Klosters kann immer noch besichtigt werden. Auch die Entscheidung überhaupt ein Kloster zu bauen, wenn auch für sehr wenig Geld, nicht mehr als 100 Cruzados, bricht schon mit dem ursprünglichen Gedanken des Bettelordens. Die Bibliothek lässt vermuten, dass auch Bonaventuras Theorie der Natur als Buch, in dem wir die Gegenwart Gottes anschauen, nicht vergessen wurde.
Erfolg der franziskanischen Bewegung
Die ersten Franziskaner hatten nicht studiert, Franziskus wollte mit seinen Brüdern keinen neuen Klerikerorden gründen, sondern in radikaler Armut leben. Wenn das Ende der Welt bevorsteht, dann sollte wenigstens eine kleine Gemeinschaft von Christen ein apostolisches Leben führen, d.h. auf privates und gemeinsames Eigentum verzichten. Der Verzicht auf weltliche Macht und Reichtum schloss den Verzicht auf Bücher mit ein. Denn auch mit Wissen, mit dem Zwang formaler logischer Schlüsse, kann man bekanntlich Gewalt ausüben, man denke nur an (Kirchen-)Juristen. Fraglich war zunächst noch, ob man Geldspenden annehmen und Konvente bauen sollte. Doch schon in der Mitte des 13. Jhs. wurde die franziskanische Reformbewegung von ihrem Erfolg überwältigt:
sie besaß Häuser in fast allen Stätten der christlichen Welt; sie war eingedrungen in die Welt der Universität. Trat ein Professor der Bewegung bei, erhielt er seinen Lehrstuhl und bildete eine Schule. In den ersten Jahrzehnten kamen viele, die bereits Philosophie und Theologie studiert hatten. (...) Sie brachten ihre Lebensauffassung, ihre Wissenschaftskonzeption und oft auch ihre teuren Bücher mit und stellten die Bewegung vor neue Probleme: Sollten die Studierenden betteln gehen oder Handarbeiten verrichten? Sollte ihr weltliches Wissen in einer radikalen religiösen Reformbewegung Heimatrecht finden? Sollten sie weiterhin die Bücher der Heiden zugrundelegen?
Die trinitarische Geschichtstheologie des Joachim von Fiore (gest. 1202) hatte den Schwung der Reformbewegung noch einmal gefördert. Radikale Franziskaner hatten die Prophezeiungen des kalabresischen Abtes auf ihren Orden bezogen und gehofft, mit ihnen kündige sich das Reich des Heiligen Geistes an, ein vergeistigtes Christentum. Die Kleriker nutzten die Situation, beschuldigten die Mendikanten der Häresie und bestritten ihnen das Recht, an der Universität zu lehren.
1256 bestätigte der Papst jedoch die Privilegien der Mendikanten wieder.
Die Bettelorden waren eine unentbehrliche Einsatzgruppe der zentralen Kirchenverwaltung gworden; sie waren ein ideales Machtinstrument zur Durchsetzung päpstlicher Machtansprüche gegen die Ortsbischöfe; sie waren unentbehrlich für die Durchsetzung des kirchlichen Einflusses in den breiten Schichten der städtischen Bevölkerung und kamen mit ihrem Frömmigkeitsformen dem neuen Bedürfnis nach volkstümlicher Einfachheit entgegen. Dafür mußte die Bewegung allerdings domestiziert und von ihrem eschatologischem Radikalismus gelöst werden.
Bonaventura
Deswegen trat Bonaventura an die Stelle von Johannes von Parma, der zu den ersten Anhängern Francescos gehörte, als Generalmeister des Ordens und leitete die ideologische Reinigung der franziskanischen Bewegung ein. Wer zu den Spiritualen gehörte und damit radikaler Eschatologie verdächtig war, erhielt Lehrverbot, landete im Kerker oder bekam Hausarrest.
Bonaventura schrieb Francescos Legende um und befahl die Vernichtung seiner älteren Biographie. Zum Lohn ernannte der Papst ihn zum Kardinal. Die radikale Version des Armutsgedankens wurde in den Untergrund gezwungen.
Bonaventura kritisierte die Grenzen der aristotelischen Rationalität. Ihm ging es um Einsicht in den Glauben, intellectus fidei, die Erkenntnis des göttlichen Wortes war der Schlüssel zu allem. Eine neue Logik sollte dazu befähigen, in der Natur die Spur des Göttlichen zu erkennen. Er
hat franziskanische Erfahrungen - Naturanschauung, Ernstnehmen der empfindenen Ich vor Gott, Kreatürlichkeitsbewußtsein und Exzeß - in der Philosophie zu Wort gebracht: Die Natur ist ein Buch, in dem wir die Gegenwart Gottes erkennen, das uns auf uns, die Betrachter, zurückverweist, die teilhaben an den weltbegründenden Gedanken Gottes.
Die Seele ist ein Spiegel der Gottheit; hat sie einmal die Umkehr aus der verkehrten Anhänglichkeit ans Sichtbare vollzogen, findet sie in sich das göttliche Licht, das jeden Menschen erleuchtet (Illuminationstheorie der Erkenntnis). Diese Metaphysik des Lichts wurde ebenso wie die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des Willens ein Kennzeichen der Franziskanerschule.
Duns Scotus und Wilhelm von Ockham haben die Sonderlehren der Franziskanerscholastik (Wille, Individualität, Lichtmetaphysik, augustinischer Materiebegriff) weiter entwickelt.
Roger Bacon
In keinem Zeitabschnitt des Mittelaters, so Kurt Flasch, gab es so zahlreiche und philosophisch so bedeutende Neuansätze wie zwischen 1250 und 1350. Dieses innovative Klima wird auch innerhalb der Orden spürbar. So stand neben Bonaventura der englische Franziskaner Roger Bacon (1292), ebenfalls ein Mann der zweiten Generation der franziskanischen Bewegung.
Er sah die kulturfremde Radikalität der Bettelmönche überwunden und den Moment einer Umwandlung auch der Wissenschaft gekommen.
Es sollte eine Umwandlung sein im Sinne einer Zurückführung aller Wissenschaften auf Christus, auf Christus als das Wort, das Mensch geworden ist, um die Menschheit mit Gott zu vereinigen. Diese Vereinigung sollten die Bettelorden nicht nur verkünden, sondern betreiben. Nicht das aristokratische Wissen der Pariser Magistri, sondern ein franziskanisch verwandeltes Wissen im Bunde mit den Armen war notwendig, um den Drohungen des Antichrists zu widerstehen - den inneren Spaltungen, der Tartarengefahr, der kulturellen Hegemonie des Islam.
Frieden war ein Kennwort der Franziskaner. Aber Roger Bacon zielt nicht auf die Reduktion der Wissenschaft auf Theologie, verstanden als Kontemplation des Logos. Bonaventura hatte den franziskanische Motiv des Friedens instrumentiert als kontemplativen Aufstieg der Seele, die in Gott ihren Frieden findet. Gegen diese asketische Version der franziskanischen Inspiration setzt Bacon einen operationalistischen Akzent: Wissen sollte nützlich sein und zur Verbesserung des Lebens führen.
Er stellte dem Bücherwissen (...) seine Erfahrungswissenschaften entgegen. Er enthüllte die Mängel des Pariser Wissenschaftsbetriebs: ihm fehle die Kenntnis fremder Sprache, insbesondere des Griechischen und des Arabischen; es fehle der durchgängige Bezug auf Verbesserung des persönlichen und des öffentlichen Lebens.
Bonaventura erteilte ihm Schreibverbot, seine technischen, optischen und chemischen Experimente wurden nicht weiter gefördert, schließlich verbrachte er zwölf Jahre (1277-1289) im Kerker. Drei Jahre nach seiner Entlassung durch den neuen Generalmeister des Ordens starb er, seine Überzeugungen allerdings waren ungebrochen.
Durch die Fortschritt der staatlichen Verwaltung, durch Städtewesen, Handel und Handwerkserfahrung war der primär kontemplative Wissensbegriff der monastischen wie der aristotelischen Tradition jetzt kritisierbar geworden.
Frieden - das war jetzt nicht länger die Erfüllung eines kontemplativen Lebens in der Anschauung des höchstens Gutes. Die Natur sollte methodisch und mit mathematischen Sachverstand erforscht werden. Dazu war es notwendig, das theoretische Wissen auf Experimente zu begründen und in den Dienst der "ethisch-politisch-technischen Lebensreform" zu stellen. Roger
sah es als seine Aufgabe an, eine kirchenreformatorische und völkerleitende Weisheit zu entwickeln, die Kriege vermeidet, Zwangsbekehrung und unnützes Blutvergießen überflüssig macht.
Dazu sollten auch Magie und Astrologie verhelfen, eine Magie, die auf Natureinsicht und nicht auf die Hilfe von Dämonen zählte. Sein Denken kreist um Schiffe, die ohne Ruder sich bewegen, Wagen ohne Pferde, Flugzeug, Hebewerkzeuge und Unterseebote. Eine verbesserte, praktische Medizin sollte dazu führen, dass die Menschen länger leben und alt würden wie Methusalem.
(Quelle: Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter.)
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