Adorno über Freiheit im Osten und im Westen

Hört man dagegen Gauck über Freiheit salbadern, weiß man, welche Stunde heute der Reflexion geschlagen hat.

(E)in unmittelbarer Fortschritt zur Freiheit ist nicht zu behaupten. Das ist objektiv unmöglich, weil in Ost und West das Netz der Gesellschaft so sich verdichtet, die Konzentration von Ökonomie, Verfügungsgewalt und Verwaltung so ansteigt, daß die Menschen mehr stets zur Funktion herabgesetzt werden. Was an Freiheit bleibt, nimmt den Charakter des Epiphänomens, des gehegten Privatlebens an, ist nicht substantiell in dem Sinne, daß die Menschen sich selbst bestimmen, sondern sie werden nur in einzelnen Sektoren auf Widerruf freigelassen, weil sie es sonst überhaupt nicht aushielten. Selbst in der Sphäre des Konsums, wie bezeichnenderweise heißt, was früher Genuß genannt wurde, sind sie zu Anhängseln der Maschinerie geworden. Nicht um ihretwillen wird produziert – ihr Konsum macht nur sehr mittelbar und in beschränktem Umfang ihre eigenen Wünsche geltend -, sondern sie müssen nehmen, was die Produktionsmaschinerie ausspeit. Freiheit wird armselig, dürftig, schrumpft zur Möglichkeit, das eigene Leben zu erhalten. (Theodor W. Adorno: Zur Lehre von der Geschichte und von der Freiheit, Frankfurt/ Main, 2006, S.11)

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Zur Desorientierung