Abschaffung der Parteien

Simone Weil hat in einer kleinen, während ihrer letzten Lebensmonate (1943) verfassten Schrift die Verabschiedung des Geistes durch die Herrschaft der Parteien beklagt und ihre Abschaffung gefordert. Nicht um den Mob zu ermächtigen, sondern um das Individuum zu befreien.

In ihrem von André Breton hoch gelobten Aufsatz zur generellen Abschaffung der politischen Parteien beschreibt sie deren Unwesen durch drei Merkmale:

(1.) Eine politische Partei ist eine Maschine zur Fabrikation kollektiver Leidenschaft.
(2.) Eine politische Partei ist eine Organisation, die so konstruiert ist, dass sie kollektiven Druck auf das Denken jedes Menschen ausübt, der ihr angehört.
(3.) Der erste und genau genommen einzige Zweck jeder politischen Partei ist ihr eigenes Wachstum, und dies ohne jede Grenze.
Aufgrund dieser drei Merkmale ist jede politische Partei im Keim und Streben totalitär. Wenn sie es nicht in Wirklichkeit ist, dann nur, weil die anderen Parteien um sie herum es nicht weniger sind als sie.

Es geht Simone Weil darum, die Menschen vom kollektiven Druck zu befreien. Und die Kritik der Partei(en) ist nur ein Fall unter all den Phänomenen, "wo das Kollektiv die denkenden Wesen beherrscht". Mittel des kollektiven Zwangs sind Propaganda und Dressur. Sie erziehen zur Konformität und ersticken das "innere Licht" seelischer Orientierung.

Gershom Scholem hat den "abscheuliche(n) Geruch der Innerlichkeit" an Simone Weil gespürt, aber sie ist durchaus keine Apologetin radikaler Innerlichkeit, sie sucht vielmehr nach authentischer Öffentlichkeit. Solidarisch ist sie mit (all) den einzelnen Menschen.

Dass man sich Parteien suchen müsse, um, von "Sorge um das Gemeinwohl" getrieben, "wirksam am öffentlichen Leben teilzunehmen", sei ein Übel, dem man ein Ende setzen müsse durch die Abschaffung der Parteien. An ihre Stelle trete ein "Spiel der Affinitäten", der "konkreten Haltungen" und der "tatsächlichen Geistesverwandtschaften". Wir fänden uns in einem politischen Milieu wieder, das "im Fließen" wäre, ohne die "künstliche Kristallisierung in Parteien".

Die Abschaffung der Parteien wäre deswegen "höchst legitim und scheint in der Praxis nur gute Wirkungen zeitigen zu können".

Dem kollektiven Zwang parteiförmiger Öffentlichkeit entspricht der Druck sich im Sinne gegebener Alternativen entscheiden zu müssen:

Fast überall - und sogar oft bei rein technischen Problemen - ist die Operation des Partei-Ergreifens, der Stellungnahme für oder gegen etwas an die Stelle der Operation des Denkens getreten. (...) Es ist so weit gekommen, dass man überall fast nur noch denkt, indem man 'für' oder 'gegen' eine Meinung Stellung bezieht. Daraufhin sucht man Argumenten, je nachdem, pro oder contra. Das ist die genaue Übertragung der Parteizugehörigkeit.

Die Logik der parteilichen Zugehörigkeit hat ihre extreme Auspägung in einem Denken, das sich an die Kategorien von Freund und Feind hält. Tertium non datur. Aus dem Sozialen müssten also die unter der Herrschaft der Parteien fabrizierten Kollektivgefühle ausgetrieben werden, um das denkende Individuum politisch zu befreien.

Heinrich Böll hat in Simone Weil "eine zweite Rosa Luxemburg ahnt" aber gewusst: "ich bin ihr nicht gewachsen, intellektuell nicht, moralisch nicht, religiös nicht." Als Schriftsteller hatte er "Angst vor ihrer Strenge, ihrer sphärischen Intelligenz und Sensibilität, Angst vor den Konsequenzen, die sie mir auferlegen würde, wenn ich ihr wirklich nahe käme."

Die Angst ist verständlich. Jacob Taubes hat Simone Weil die einzig legitime Nachfolgerin Marcions genannt. Und tatsächlich verteidigt sie das Individuum vor dem Zugriff des Kollektiv in einer konsequent gnostischen Perspektive, die nicht zuletzt ihren Übertritt zum Katholizismus unmöglich gemacht hat. Die Parteien beten das soziale Tier/Wir an: den Gott des Kollektivs und des Volks. Aus den Worten des Teufels an Christus bei Lukas über die Reiche dieser Welt ergebe sich, schreibt sie in "Das Unglück und die Gottesliebe", dass das

Soziale unaufhebbar der Herrschaftsbereich des Teufels ist. Das Fleisch treibt uns, ich zu sagen, und der Teufel treibt uns, wir zu sagen; oder auch, wie die Diktatoren, ich mit kollektiver Bedeutung zu sagen.

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