Wahlplakate öffnen eine Welt des Imaginären, will man sie verstehen, muss man lesen, was nicht geschrieben steht, sondern im politischen Raum geträumt wird. Im besten Fall können wir dann aus dem Traum erwachen, mit dem in Wahlzeiten die Politik uns lockt.
Michael Heider finden wir mittendrin. Hier soll, heißt das, Klartext geredet werden, ein Wort, keine weiteren Ansagen.
Aber so klar ist das nicht. Denn wo steckt der Kandidat genau? Was ist seine Position? Wo man sich befindet, wenn man mittendrin ist, versteht sich so wenig von selbst wie die Geometrie der politischen Mitte.
Wir werden ihn zunächst unter Leuten, im Getümmel, mitten im Leben suchen müssen. Wer mittendrin ist, hat keine Berührungsängste, sondern gibt sich volksnah; der auch bei anderen bürgerlichen Kandidaten zu beobachtende Verzicht auf die nicht mehr obligatorische Krawatte signalisiert Ungezwungenheit; und schaut man genau hin, scheint er sich auch des Jacketts gerne entledigen zu wollen. Ein Kandidat tritt auf, der die Menge nicht scheut, sondern sich mit den Menschen verbunden fühlt, ein Kumpeltyp.
Aber das können wir nur vermuten, denn gezeigt wird auf dem Plakat allein der Kandidat, keine Menschenmenge, die den Slogan anschaulich und visuell prägnant machte. Wo der Kandidat ist, gibt das Plakat zu verstehen, ist die Menge immer auch virtuell präsent. Er ist die Spinne mitten im Netz, der Kandidat gibt sich als Netzwerker zu erkennen, als Strippenzieher. Wenn der Intellektuelle dem geläufigen Vorurteil nach zwar keine Ahnung hat, aber weiß, wo man nachschlagen sollte, um ein wenig klüger zu werden, dann zaubert der Netzwerker kein Programm, sondern im Zweifelsfall einen Kontakt herbei, an den man sich wenden sollte. Der Netzwerker ist die Mensch gewordene Weiterleitung.
Stets besteht beim Netzwerker die Gefahr, den Allmachtsphantasien zu erliegen, die ihm sein außergewöhnlich gut gepflegtes Adressbuch einflüstert. Er träumt von der Gefolgschaft, die er an der Leine zu führen weiß: dann genügten ein Anruf oder eine E-Mail und die gut organisierte Kleinstgruppe stünde zur Durchsetzung seiner politischen Interessen bereit. Wir haben hier also einen Kandidaten, der sich für die Politik die Strategien klassischer Bürgerinitiativen zum Vorbild nimmt, dabei aber weniger auf das frei schwebende und politisch distanzierte Bürgertum setzen wird, sondern in Vereinen und Verbänden die Strippen zieht. Mittendrin ist er nicht im Chaotischen, im Ungebundenen, sondern er weiß die schon vorhandenen Strukturen und Netze für sich zu nutzen. Er steckt mittendrin im Bestehenden, nicht dort, wo Neues gärt.
Und mittendrin - das heißt natürlich auch: in der Mitte. Der Kandidat ist dem Anschein nach also politisch weder rechts noch links, sondern ganz einfach da, in der Mitte. So wird um den Mittelstand geworben, aus dem soziologisch vor allem die Wechselwähler kommen. Adressat des Plakats sind vor allem die nicht ganz so sicheren Anhänger der Grünen, die mit den Assoziationen bürgerlicher Bewegung mitten im Leben gelockt werden sollen.
(Aber die ganz und gar nicht neue Bescheidenheit der Mitte trägt die Signatur des Banalen. Sie hat nichts mit dem bekannten Orakelspruch aus Delphi zu tun, der nichts im Übermaß zu tun verlangte. Das antike Lob der Balance gehört einer Zeit an, in der Politik die Sache nicht von Parteien, sondern freier Männer war, die Hybris und die Versuchung des Extremen kannten. War in der Bundesrepublik der 50er Jahren die Angst vor dem Verlust der Mitte noch getrieben von der anti-modernen Sehnsucht nach katholischer Weltorientierung, bleibt die Mitte heute spannungs- und substanzlos. Sie ist keine agonale Sphäre, in der Konkurrenz und Polarisierung ausdrücklich gewollt ist, sondern das Feld von Konfliktmanagement das nicht mehr, sondern weniger Demokratie bringt. Mitte, das ist die Chiffre für den Status quo, sie bezeichnet eine Situation allgemeiner Erschöpfung. Gerade das so forsche wie offensive Auftreten ihrer Vertreter, die die Position in der Mitte für selbstverständlich und nicht weiter erklärungsbedürftig halten, ist kaum mehr als die Maske allgemeiner Ratlosigkeit, die sich hinter der Hyperaktivät verbirgt. Mit der Mitte wird der politische Ausgleich beschworen, bevor es zum Streit darüber, wie wir leben wollen, überhaupt kam. Differenzen werden verdrängt und Konflikte allenfalls hysterisch als Personalentscheidungen ausgetragen. Suggeriert wird paternalistisch ein überparteilicher Standpunkt jenseits partikularer Interessen. Mittendrin, das ist die Illusion einer befriedeten Welt, in der Interessengegensätze und antagonistischen Strukturen verleugnet werden.)
Aber das in der Mitte verdrängte Politische kehrt wieder. Alle anderen nämlich, impliziert das Plakat, sind nicht mittendrin, sondern am Rand, am rechten oder linken. Das macht deutlich: wer die Mitte definieren und behaupten will, führt immer einen Extremistendiskurs, in dem benannt wird, wer im politischen Raum keinen Platz hat. Indem man das Reich der Mitte hegt, wird der politische Feind ausgeschlossen, die Mitte zieht sich dann zusammen und hat keinen so großen Umfang, wie es den Anschein haben könnte, denn es gibt einen immer größeren Rand. So bunt und vielfältig kann das Leben also nicht sein, in dessen Mitte der Kandidat steckt. Mittendrin ist keineswegs so liberal, wie es klingt.
Kein Wunder also, dass Sicherheit das zentrale Thema der Mitte ist. Denn mit Sicherheit ist nie nur die gute Versorgung mit Polizeikräften vor Ort gemeint, der Begriff wird als Metapher eines Lebensgefühls plakatiert: alles soll so bleiben, wie es ist. Zuletzt ist es die Große Mutter, die Sicherheit und Geborgenheit verspricht. Die Politik der Mitte gehorcht (nicht nur unter Merkel) der Formel TINA - "there is no alternative". Der Bürger soll einfach nur verstehen, was für ihn notwendig ist. Und bis dahin können wir endlos diskutieren - schön, dass wir darüber geredet haben. Es gibt dann nur noch Vermittlungsprobleme, der Bürger muss nur verstehen, was die Politik will. Wenn er einmal gegen etwas sein sollte, dann nur, weil er nicht verstanden hat, worum es geht und was doch zu seinem Besten ist. An die Stelle von Streit und (Richtungs-)Entscheidung treten Akzeptanzgewinnungsmaßnahmen und Bürgerinformationsveranstaltungen, die mit demokratischer (Bürger-)Beteiligung nichts zu tun haben.
So versteht sich der Kandidat dann auch ganz konsequent als Dolmetscher - mittendrin sei er nämlich zwischen Landes- und Lokalpolitik verortet. Gegen das Zerrbild des Berufspolitikers, das ja gerade Politikverdrossene gerne beschwören, wird mit dem des politischen Neulings kokettiert. Die große Politik in Potsdam soll den kleinen Leuten verständlich gemacht werden, zu denen sich der Kandidat gerne zählt, will er doch im Ernstfall so lange nachfragen, bis die gerade verhandelte Sache ihm tatsächlich klar geworden ist. Damit ist freilich kaum mehr als die Banalität ausgesprochen, dass im Parlament sich nur zu Themen äußern und über Anträge abstimmen sollte, wer diese verstanden hat. Das Gegenteil allerdings dürfte der Fall sein, denn im politischen Alltagsgeschäft ist Kompetenzsimulation eine unverzichtbare Tugend. Und ist nicht selbstverständlich, dass ein gewählter Politiker auch befähigt sein sollte, vor Ort darüber Rechenschaft abzulegen, was er in Potsdam vertritt und beschließt? So werden in Hohen Neuendorf die Usancen repräsentativer Demokratie als Alleinstellungsmerkmal plakatiert.
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